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Weiter geht’s mit dem Bildungsschock

BILDUNGSSCHOCK ist eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt über “Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren” (bis 11.07.). Es existieren verschiedene erklärende Beiträge im Netz über die Ausstellung, aber das verlinkte PR-Video bringt die Vielfalt am besten kompakt zum Ausdruck.

Worum geht’s und was haben die 1960-70er Jahre mit heute gemein?

Was war der Bildungsschock?

Bildungsschock rekonstruiert die Folgen des «Sputnik-Schocks» von 1957. Nachdem die Sowjetunion den Westen mit einem ungeahnten Erfolg beim Wettlauf ins All düpiert hatte, expandierte Bildung im globalen Maßstab, um die vermeintliche „Weltbildungskrise“ der Nachkriegsordnung zu bewältigen. Unter dem Druck demografischer und technologischer Entwicklungen, sozialer Bewegungen und kultureller Veränderungen wurden das Lernen selbst, aber auch die Räume des Lernens neu gedacht und geplant.

Die Industriegesellschaft brauchte eine Vielzahl besser ausgebildeter Menschen, sodass zahlreiche Gebäude hochgezogen wurden, die es ermöglichten, existierende pädagogische Curricula in die Breite zu tragen. Begleitet vom ambitionierten “Moonshot Thinking” der JFK-Ära, das schließlich in der Mondlandung, dem Internet und den sozialen Netzwerken mündete, um damit den US-amerikanischen globalen Führungsanspruch aufzubauen und zu festigen, sollten im Bildungssystem die Grundlagen geschaffen werden, auf denen wissenschaftlich fundiert die Zukunft sich aufsetzen ließ.

Dieses Bildungsverständnis top-down unter die Menschen zu bringen, stieß auf immer selbstbewusster auftretende, emanzipatorische Bewegungen, die ein Mitspracherecht zur eigenen Selbstermächtigung einforderten. Bildungspolitik war und ist immer Machtpolitik der gesellschaftlich herrschenden Schichten mit lang anhaltender Bedeutung. 

Wie also können oder sollten Lernräume gestaltet sein, damit einerseits Menschen volkswirtschaftlich sinnvoll geprägt und gleichzeitig individuell lebenstauglich begleitet werden können? Dieser Frage geht die Ausstellung nach und trägt weltweite Beispiel architektonischer Lösungen für Bildungsstätten zusammen. 

Offenkundig ist, dass “Bildung” je nach sozial-historischem Kontext unterschiedliche Sinnstiftungen verbinden helfen muss. Diesem Anspruch wird Bildungspolitik bis in heutige Zeiten kaum gerecht, will sie doch in kolonialistischer Manier immer wieder normativ verbindliche Standards für “richtige Bildung” zugunsten der Herrschenden durchdrücken.

Der Bildungsschock durch Corona

Diesem Weltbild sind wir bis heute ausgesetzt. So schreibt der Intendant des HKW, Bernd Scherer, in seinem Vorwort zum umfangreichen Ausstellungsband:

In der traditionellen Klassenraumsituation geht es wesentlich darum, bestehendes Wissen von einer Generation an die nächste weiterzugeben. Im Sinne unserer Unterscheidung geht es um die Einübung des Denkens, indem der bestehende Wissenskanon weitergegeben wird. Die individuellen Differenzen bei der Aneignung der Lebensvollzüge, die den Wissensprozessen zugrunde liegen, werden dabei ausgeblendet. In diesem Sinne ist der traditionelle Klassenraum ein vom realen Leben bewusst abstrahierter Raum, der die Schüler*innen nicht dazu einlädt, eigene Erfahrungen zu machen. Es geht um eine Weitergabe von Wissen, in dem sich eine Gesellschaft über die Zeit, über Generationen zu stabilisieren versucht. Veränderungen beziehungsweise Abweichungen, die durch individuelle Aneignungsprozesse entstehen, sind in der Regel nicht erwünscht, werden bestenfalls toleriert. Das Wissen, das sich als Tradition über Generationen gebildet hat, soll der Gesellschaft als Orientierung dienen.

In dieser Tradition kommt die aktuelle Bildungspolitik unter Druck, sobald sie die Schüler*innen nicht mehr räumlich zwanghaft unter Kontrolle hat. Sie werden jetzt per Homeschooling über die Eltern bespielt, das Wohnzimmer über die virtuellen Räume mit pädagogisiert. Die Bildungspolitik greift somit maßgeblich in die familiären, privaten Strukturen ein, so der Kurator Tom Holert in einem Interview. “Die Bildung” erziehe jetzt die gesamte Gesellschaft für ihre angeblich “bessere Welt”, in der die jeweilige Volkswirtschaft weiter eine weltgewichtige Rolle spielen soll. 

Diese Pädagogisierung des Alltags ist sicherlich bedenklich. Inwiefern die Rückkehr der Kinder hinter die Wände der Schulen den ehemals emanzipatorischen Zug fortsetzen hilft, möchte ich bezweifeln. Es bräuchte vielmehr fluidere Lernumgebungen, die Rücksicht nehmen auf individuelle Aneignungsprozesse und Kulturen.


Artikel am 5. Juli 2021 erschienen auf piqd als Hinweis auf das Vimeo-Video Bildungsschock