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Erbitterter Kulturkampf in der Mathematik

Über die Mathematik-Professorin Jo Boaler aus Stanford hatte ich schon einmal berichtet. Seit Beginn ihrer Forschungen, wie man auch Menschen aus einkommensschwächeren Familien die Mathematik nahebringen könne, steht sie in der Kritik vor allem älterer, weißer Herren, die an ihrer (überlebten) Didaktik festhalten wollen. 

Deren Kampf für den alten Status Quo wurde seit jeher mit harten Bandagen geführt. In den letzten Jahren scheinen sich die Auseinandersetzungen weiter verhärtet zu haben. Davon berichtet ein Mathe-Studienkollege von Jo Boaler fassungslos in dem hier verlinkten Blogartikel. 

Todesdrohungen. Vergewaltigungsdrohungen. PTSD. Ich hätte nie gedacht, dass diese schrecklichen Worte in einem Mathe-Blog vorkommen würden, schon gar nicht in meinem letzten. Aber es gibt keine Möglichkeit, die ganze Geschichte ohne sie zu erzählen. Das ist es, womit Jo Boaler jetzt zu tun hat. Was für ein Klima des Diskurses und der Verständigung über den Mathematikunterricht muss herrschen, um zu solch unvorstellbaren und unerbittlichen Anfeindungen beizutragen? (Fürs Protokoll: Jo Boaler hat mir diese Drohungen unter vier Augen mitgeteilt. Es fällt mir sehr schwer, diese Briefe aus dem Kopf zu bekommen – und sie waren nicht einmal an mich gerichtet).

Anlass für diese Eskalationswelle ist die aktuelle Ausarbeitung eines neu angepassten Mathe-Curriculums für den Bundesstaat Kalifornien, das sich kurz vor Fertigstellung befindet. In Zeiten des Informationszeitalters mit zunehmend datenbasierten Entscheidungsstrukturen sind neue Qualifikationen in der breiten Workforce erforderlich. Dazu müssen grundlegende Bildungsgrundsätze hinterfragt und der individuelle Mathe-Hass überwunden werden.

Jo Boaler hatte dazu (neben anderen) viel geforscht und Modelle entwickelt, wie man “natürlichere” Wege zur Schönheit der Mathematik findet. Was allerdings in der Konsequenz bedeutet, dass diese nicht nur von “genialen” (meist) Männern gemeistert werden kann. Das gefällt naturgemäß letzteren nur bedingt und mündete in ersten süffisanten Mobbing-Attacken, die über die digital verstärkte Erregungskultur zwischenzeitlich unsägliche Ausmaße angenommen haben.

So giftete letzthin auch der republikanische Hardliner und Florida-Gouvernor Ron DeSantis gegen die woke Mathe-Kultur in den Lehrbüchern (siehe dazu auch hier den Politico-Artikel). Überhaupt wehren sich die Konservativen sehr stark gegen das neuerdings stark nachgefragte sozial-emotionale Kompetenzprofil, das immer mehr Menschen benötigen, um die disruptiven Wellen am Arbeitsmarkt konstruktiv zu reiten. 

Neben einem tiefen technologischen Verständnis braucht es aber zur Bewältigung unserer Zukunft (der Arbeit) mehr Empathievermögen auch in den Führungsetagen, um dezentrale, vernetzte Strukturen zeitgemäß aufbauen und nachhalten zu können. So kommt eines zum anderen und die „natürlichen“ Mainstream-Eliten gelangen unter Druck. 

Aber warum trifft es ausgerechnet Jo Boaler so maßlos, ist sie doch nur eine von sechs zentralen Autor*innen des Mathematics Framework’s, fragt sich der Autor. Er gelangt zu dem Schluss:

Ja, die Welt des Mathematikunterrichts war schon immer mit politischen Debatten verbunden, aber die Heftigkeit der Angriffe – die aus einem tödlichen Cocktail aus Angst, Unwissenheit und dem Unwillen, die Wahrheit zu erfahren, herrühren – führt zu einer traurig bekannten Antwort, die sogar über hitzige Diskussionen hinausgeht.

Jo Boaler ist weiblich.

Und sie sollte nicht allein kämpfen müssen. Da hat er recht. Also volle Solidarität! 

Und ja: Wir müssen die Mathematik-Didaktik grundlegend anpassen an die heutigen Zeiten. Auch in Deutschland können wir es uns nicht leisten, nur ein Talent angesichts einer altertümlichen Didaktik zu verlieren. Denn: ALLE können Mathe lernen! Auch im hohen Alter noch! Und wir benötigen dringend diese gesellschaftliche Kompetenz.


Artikel am 22. August 2022 erschienen auf piqd als Hinweis auf den medium-Artikel Dehumanizing Math Educators: The Jo Boaler Story You Don’t Know

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