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Von wegen gerechte Bildung für alle …

Über das Bildungssystem als Reproduktionsort des Klassenbewusstseins spricht hier der Soziologe Andreas Kemper im Dissens-Podcast. Er erklärt recht eindrücklich und im Grunde für alle gut nachvollziehbar, wie sich durch die feinen wie groben Unterschiede in den Herkunftsfamilien gewisse Distinktionsmerkmale in den heranwachsenden Schüler*innen manifestieren, die sich bis in den späteren beruflichen Alltag hinein bemerkbar machen. 

Dem Bildungssystem käme zwar “an sich” die Aufgabe zu, diese unterschiedlichen Startbedingungen ins aktive Leben zu kompensieren, sodass Kinder fortan wirklich gleiche Chancen bei gleichem Talent vorfänden. Dem ist aber nicht so. Und wie wir ja alle spätestens seit den PISA-Studien wissen, gibt es kein Land auf dieser schönen Erde, in dem der soziale Status der Herkunftsfamilien solch eine entscheidende Rolle für die Bildungskarrieren der Heranwachsenden spielt, wie in Deutschland. Der Bildungshabitus wird hier vielmehr verstärkt – und dies von Jahr zu Jahr stärker.

Die Schere geht also immer weiter auseinander und mit dem dreigliedrigen Schulsystem, auch dieses weltweit einmalig (neben Österreich), kämpfen die akademischen Eltern und ihre Vertreter*innen mit aller Macht um die Aufrechterhaltung eben dieser Statusunterschiede – und damit gegen die Einheitsschule. Diese vorherrschende Struktur stammt aber aus der Ständegesellschaft des Kaiserreichs – und wurde für die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts optimiert. Zwar wollten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg genau diese Dreigliedrigkeit auflösen, da sie darin eine überlegene Haltung einer kleinen Gruppe einerseits, ein Minderwertigkeitsgefühl bei der Mehrheit der Deutschen andererseits identifizierten, aber die bürgerlich-liberalen Kräfte wehrten sich erfolgreich. (Ich hatte darüber an anderer Stelle schon einmal berichtet.)

Diese kulturelle Spaltung setzt sich im Lehrkorpus der Schulen wie Hochschulen weiter fort. Viele Lehrkräfte (auch allesamt Akademiker*innen) unterstützen es, diese habituelle Struktur weiter aufrechtzuerhalten, statt sich für die gleichberechtigte Etablierung der Gesamtschule als alleinigem Schulsystem einzusetzen. Hier führt Kemper diverse Studien an. Und während viele Akademiker-Eltern sich über Empfehlungen, die nicht das Gymnasium referenzieren, hinwegsetzen, vertrauen sozial schwache Eltern den Empfehlungen der Schule. Ein Dilemma, das sich in Corona-Zeiten weiter verstärkt.

So reproduzieren wir allesamt und immerfort die alte Klassenstruktur, wundern uns vielleicht, warum verhältnismäßig viele soziale Schwache der rechten Meinungselite hinterherlaufen, derweil diese den staatlichen Einfluss libertär zurückdrängen wollen, z.B. auch über den experimentellen Aufbau von “Privatstädten”. Kemper berichtet von einem abenteuerlich klingenden Projekt der TU München, die als unternehmerische Uni den Privatstadt-Aufbau einer Enklave in Honduras in Kooperation begleitete – aber Anfang dieses Jahres ausstieg aus dem Projekt. Diese Entwicklungen verfolge ich fortan kritisch weiter, denn viele Projekte der TUM finde ich selbst nicht uninteressant. (Ich hatte hier auf piqd dazu schon einmal berichtet.)

Also, alles in allem hochinteressant, dieser Blick auf das Bildungssystem aus einer anderen Perspektive. Ab Minute 20:40 steigen sie konkret ein in diese Analyse, vorab wird in das Konzept des Klassismus eingeführt.


Artikel am 26. Mai 2021 erschienen auf piqd als Hinweis auf den Dissens-Podcast #126 “Unser Schulsystem kommt aus der Ständegesellschaft”

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