Interview von Sabine Schritt mit Anja zu ihrem Buch für die Personalführung
Auszug
Frau Wagner, Sie bezeichnen sich selbst als Bildungsquerulantin, warum?
DR. ANJA C. WAGNER Nach meiner Überzeugung müssen wir Bildung vollständig gegen den Strich bürsten. Ich sträube mich dagegen, Bildung immer nur aus der Perspektive der Institutionen zu betrachten, und versuche Bildung von lernwilligen Menschen aus zu denken.
Wie bewerten Sie das deutsche Bildungssystem angesichts der neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt?
WAGNER So wie sich unser Bildungssystem im Moment darstellt, ist es im Zuge der Industrialisierung entstanden und hat sich inzwischen strukturell so verfestigt, dass es kaum noch Möglichkeiten gibt, es zu verändern. Mit diesem starren System, das sich auch in verschiedenen Institutionen widerspiegelt, hat sich eine alte Sichtweise ins 21. Jahrhundert transportiert. Mit dem Nachteil, dass wir damit den Veränderungsprozessen der neuen digitalen Welt, die gerade exponentiell stattfinden, massiv hinterherlaufen.
Was genau ist ihre Kritik?
WAGNER Seit mindestens 15 Jahren ist mit dem Internet ein riesiger neuer Lernraum entstanden, und nur die wenigsten Akteure im Bildungssystem wissen, wie man diesen nutzen kann. Durch die digitale Transformation werden viele Menschen beruflich auf der Strecke bleiben, Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie sich in diese neue Dynamik einfädeln können. Doch unser Weiterbildungssystem, so wie es derzeit organisiert ist, kann diese Menschen nicht unterstützen, weil es strukturell veraltet und unterfinanziert ist. Wir geben den Menschen, die sich verändern und weiterentwickeln wollen, nicht die Instrumente an die Hand, die sie brauchen. Sondern wir arbeiten weiter in dem Duktus des letzten Jahrhunderts, in dem alles viel behäbiger und in viel längeren Zyklen ablief. Das funktioniert heute aber nicht mehr.
Sie spannen in Ihrem Buch einen Bogen von der Entstehung erster Berufe und Differenzierung der Erwerbstätigen bis zum Bildungsbürgertum.
WAGNER Menschen, die in gehobenen Positionen sitzen, erkennen sich an einem bestimmten Habitus. Gleichzeitig denken sie, einzig ihre Leistungsfähigkeit habe sie dorthin gebracht. Diese Führungselite haben wir heute noch. Viele Menschen sind jedoch immer noch vom Aufstieg ausgeschlossen.
Ist der Fachkräftemangel selbst gemacht?
WAGNER Unser ganzes Qualifikationssystem ist zu unbeweglich. Für Seiteneinsteiger gibt es immer noch zu wenig Möglichkeiten. Das kann man nur politisch auflösen, und ich hoffe, dass wir endlich in einen echten politischen Diskurs einsteigen. Diese alten Plattitüden, vom Aufstieg durch Bildung und jeder muss Zugang zu Bildung haben, helfen nun wirklich nicht weiter. Denn in der Realität ist es nicht so.
Sie behaupten, Deutschland hat bei der digitalen Transformation wichtige Entwicklungen verschlafen. Sehen wir die Konsequenzen auch gerade am Homeschooling, das vielerorts schwer umsetzbar ist?
WAGNER Es gibt durchaus Schulen, da funktioniert Homeschooling sehr gut. Man müsste Schulen viel mehr Freiraum geben. Aber das ist genau das Problem in Deutschland. Wir sehen ja an der Coronapolitik, wie sehr da ein Mikromanagement betrieben wird, von oben nach unten, um alles unter Kontrolle zu behalten. Die Schulen, die sich ihre Freiräume selbst genommen und ihr Ding gemacht haben, können es.
Das heißt, es funktioniert nicht wegen der Politik, sondern trotz der Politik?
WAGNER Vieles, was derzeit in Schulen funktioniert, ist nicht der fortschrittlichen Politik zu verdanken, sondern der Initiative Einzelner, die mit aller Kraft alte Strukturen überwinden wollen. Und dies, nicht zu vergessen, auch immer im Grenzbereich der Legalität. Da gibt es Datenschützer, die Schulen verklagen, weil sie fremde Softwarelösungen einsetzen. Aber eigene Produkte hat Deutschland ja nicht. Natürlich ist Datenschutz extrem wichtig. Aber es stellt sich doch die Frage, ob das Recht auf Datenschutz einen höheren Stellenwert bekommen soll als das Recht auf Bildung. Laut der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bedeutet Bildung nach der herrschenden Interpretation, dass sich das Bildungssystem an die veränderten Lebensbedingungen der Menschen anpassen muss und nicht, dass sich die Menschen an die Bedingungen des veralteten Systems anzupassen haben. In Deutschland haben wir unser Bildungssystem jedenfalls nicht an die veränderten Bedingungen des digitalen Zeitalters angepasst.
Wie könnten neue Prioritäten in der Bildungspolitik aussehen?
WAGNER Wir haben zum Beispiel vor einigen Jahren das bedingungslose Lern- guthaben, das „Belgut“, zur Diskussion gestellt [siehe hier]. So etwas in der Art wird auf absehbare Zeit kommen müssen. Zum Glück mehren sich jetzt in der Politik die Stimmen, die sagen, Menschen brauchen ein Bildungsbudget, das sie nach ihren Wünschen verwenden können, ohne dass jemand mitbestimmt, was sie lernen sollen.
Es ist zu hoffen, dass sich mehr Menschen darüber Gedanken machen, wie man das System der alten Strukturen aufbrechen kann. Unser Bildungssystem muss definitiv gehackt werden.
Sie sprechen in ihrem Buch von der Verberuflichung der Arbeitswelt. Ließen sich die Funktionen der Erwerbstätigkeit auch anders sortieren als in festen Berufsbildern?
WAGNER Das müsste man im Detail diskutieren. Es gibt sicher Berufe, die weiter- hin eine Zertifizierung brauchen. Wichtig finde ich aber, dass die Kompetenzentwicklung nicht mehr nur entlang der etablierten Berufsbilder stattfindet. Ich spreche vielen alten Abschlüssen ihre Relevanz ab, das spiegeln mir auch die Unternehmen, mit denen ich in Kontakt bin. Alte Bewertungssysteme und Zertifikate liefern kaum mehr eine Aussage über die Qualität der Kompetenzen, die heute gebraucht wird. Große Unternehmen experimentieren schon lange, wie man die tatsächlichen Talente der Menschen besser herausarbeiten kann. Nur der öffentliche Dienst beharrt auf den von ihnen herausgegebenen Abschlüssen zur Einstufung in die Gehaltsliga.
Sollte Berufung einen neuen Stellenwert bekommen?
WAGNER Es würde nicht nur den Menschen, sondern auch den Unternehmen und der Gesellschaft guttun, wenn wir es zuließen, dass die Menschen ihre wirklichen Talente in sich finden und das Bildungssystem ihnen die richtigen Instrumente anbietet, damit sie sich dementsprechend weiterentwickeln können. Ich glaube sehr an die kollektive Intelligenz, die dadurch entsteht, dass sich viele verschiedene Talente zusammenfinden. Nur wenn wir die individuellen Talente fördern, werden wir gute Lösungen finden können für die massiven Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir müssen endlich umdenken.
Welche Kriterien sollte ein zeitgemäßes Weiterbildungsangebot in Unternehmen erfüllen?
WAGNER Einige Unternehmen haben schon tolle Lernumgebungen installiert, die sich vor allem durch maßgeschneiderte Angebote für die Mitarbeiter auszeichnen. Wir müssen weg von Lernmanagementsystemen hin zu Lernerfahrungssystemen. Dabei durchlaufen die Mitarbeiter keine standardisierten Programme mehr, die die Personalverantwortlichen definiert und vorgegeben haben, sondern jeder bekommt individuelle Lernangebote und Gedanken anderer zugespielt. Führungskräfte dürfen nicht mehr pauschal vorgeben, was die Menschen zu lernen zu haben und wohin sie sich qualifizieren sollen, damit das Geschäftsziel XY erreicht werden kann. Dies führt unweigerlich zu dem Punkt, an dem die Unternehmen an ihre Grenzen stoßen mit der Frage: Wie motiviere ich meine Mitarbeiter jetzt, dieses oder jenes zu lernen? Wenn man aber den Menschen den Freiraum lässt, ihre Talente selbst zu finden, und ihnen zeigt, welche Möglichkeiten dafür im Unternehmen bestehen, werden ganz andere Anreize gesetzt. Dass die Menschen tun können, was sie wirklich wollen, ist ja eigentlich der Kern der New-Work-Bewegung, die von Frithjof Bergmann ausging. Doch erstaunlicherweise wird darüber am wenigsten gesprochen. Was wollen die Menschen denn wirklich, was können sie und was würden sie machen, wenn der Lebensunterhalt gesichert wäre? – das ist doch die Frage, die übrig bleibt, um die Berufung zu finden.
Findet im HR dahingehend schon ein Umdenken statt?
WAGNER Tatsächlich ist es weiterhin so, dass formale Abschlüsse erforderlich sind. Kann man diese nicht angeben, wird man schon in der Bewerbungssoftware aussortiert, genauso wie nach Alter. Aber darüber spricht man ja offiziell nicht. Dass dies ein großes Problem ist, weil so nicht unbedingt diejenigen den Weg ins Unternehmen finden, die am besten passen, wird zunehmend erkannt.
Frau Dr. Wagner, vielen Dank für das Gespräch!
2 Antworten auf „Das Internet als Lernraum nutzen statt auf Abschlüsse schauen“
Auch bei Übersicht des Neuen Koalitions Vertrages KEINE ÄNDERUNG ODER GAR EINSICHT
FESTSTELLBAR.
Augen zu und durch scheint die Devise zu sein.
Ps. Dein Buch zum Teil gelesen Chapeau
LG
Herzlichen Dank dafür liebe Anja,
Buch bestellt “was mir nicht nur aus dem Herzen spricht” !
LG
wolle