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WAS BEDEUTET EIGENTLICH WELTKLASSE-BILDUNG?

Was sagt Andreas Schleicher, Bildungsdirektor bei der OECD zu guter Schulbildung? Viel Richtiges, aber auch ein wenig Bedenkenswertes…

… auch wenn Globalisierung und digitale Technologien disruptive Auswirkungen auf unsere Wirtschafts- und Sozialstruktur haben können, so sind deren Folgen nicht vorherbestimmt. Es hängt von unserer kollektiven und systemischen Reaktion auf diese Verwerfungen ab, in welcher Weise sie auf uns wirken. Bildung spielt hier eine zentrale Rolle.

AUS: Chancen der Digitalisierung für Schule. Von Andreas Schleicher

Vorab …

Ich stehe den bildungspolitischen Verstrebungen und dem Spiel der Unternehmen über Bande sehr kritisch gegenüber. Sowohl die OECD als multinationaler Player als auch das Forum Bildung Digitalisierung (ebenso wie Stifterverband) als institutionalisierte Vertretung der Stiftungen diverser Unternehmen mit konkreten Interessen sind nicht (!) demokratisch legitimiert. Aufgrund ihrer Nähe zur Wirtschaft (und teilweise auch zu den Hochschulen als Interessenvertreter der alten Schule) stehen ihnen erhebliche Mittel zur Verfügung, die seitens der Politik über Fördergelder noch potenziert werden, um bestimmte gemeinsame Interessen per Meinungsführerschaft zu lancieren und umzusetzen. So weit, so gut. Dies für den Hinterkopf. Ich hatte dazu bereits in meiner Diss einiges geschrieben. (Hier als Open Access downloadbar.)

Andreas Schleicher (AS) als langjähriger Direktor der Bildungsabteilung in der OECD und “Vater” der Pisa-Studien, über die sich die nationalen Bildungspolitiken gut treiben lassen, ist regelmäßiger Gast im Bundestag, auf diversen Podien und Vortragsredner – und hat sich nunmehr den Möglichkeiten der Digitalisierung in “der Bildung” verschrieben.

Seine Ausführungen werden auch von kritischeren Vertreter*innen der Zivilgesellschaft gerne zitiert, weil sie gut anschlussfähig sind an hiesige Diskurse bildungspolitischer Natur. Und auch nicht ganz falsch, wenngleich man immer obige Zusammenhänge im Hinterkopf halten muß. AS ist ganz sicher ein relevanter Netzwerkknoten mit viel Einfluß auf diverse Diskursfäden in verschiedenen Szenen. Deshalb haben wir uns das in letzter Zeit einmal eingehender angeschaut.

Kleines Warm-Up

Hier als Warm-up ein kurzes Interview mit ihm – und wahrscheinlich kann da jedeR halbwegs kritische Geist bei jedem Satz mitnicken. Man sieht also: Er ist es geübt, auf Knopfdruck die zentralen Handlungsfelder im schulischen (!) Bildungsumfeld klar zu benennen. 

Und ja: Er bringt die Probleme tatsächlich auf den Punkt, wobei man die Vergangenheitsform getrost in die Gegenwart übersetzen kann. Es IST leider immer noch GENAU so!

Es ist dabei wichtig, den Blick nach vorne zu richten. Unsere heutigen Schulen sind eine Erfindung des Industriezeitalters, als die vorherrschenden Normen Standardisierung und Regelkonformität waren. Damals war es sowohl effektiv als auch effizient, Schüler*innen in Klassenverbänden auf die Reproduktion standardisierter Lerninhalte vorzubereiten, und die Lehrkräfte ein einziges Mal für ihre gesamte Laufbahn auszubilden. Es war ein pyramidales System: Die Lehrpläne, die festlegten, was Schüler*innen lernen sollten, wurden ganz oben entworfen und dann auf Lehrmittel, die Lehrerausbildung und das Lernumfeld übertragen. Dabei durchliefen sie häufig mehrere Verwaltungsebenen, bis sie schließlich bei den einzelnen Lehrkräften ankamen und von ihnen im Unterricht umgesetzt wurden.

Heute hat sich daran im Prinzip nichts geändert. Wenngleich:

Selbst die besten Bildungsminister können den Bedürfnissen von Millionen von Schüler*innen, Hunderttausenden von Lehrkräften und Zehntausenden von Schulen nicht mehr gerecht werden. Die Herausforderung besteht darin, auf der fachlichen Kompetenz der Lehrkräfte und Schulleitungen vor Ort aufzubauen, und sie in die Gestaltung besserer Politik und Praxis einzubeziehen. Weniger als ein Fünftel der Entscheidungen für die Gestaltung und Organisation der Schulpraxis werden in Deutschland in den Schulen getroffen, in den Niederlanden sind es 90%, im OECD-Mittel noch über ein Drittel.

Nun wird in hiesigen schulischen Diskursen das früher von AS einmal postulierte 4K-Modell (= die zentrale Bedeutung von Kreativität, Kommunikation, Kollaboration, Kritisches Denken) teilweise wie ein Mantra rezitiert. Dabei führt auch AS ein weit komplexeres Kompetenzprofil an.

So muss es in der Schule heute sehr viel stärker darum gehen, Denkmethoden (die Kreativität, kritisches Denken, Problemlösefähigkeit und Urteilsfähigkeit erfordern), Arbeitsmethoden (insbesondere Kommunikation und Teamarbeit), Arbeitsinstrumente (darunter die Fähigkeit, das Potenzial neuer Technologien zu erkennen und voll auszuschöpfen), aber auch die Fähigkeit zu entwickeln, in einer facettenreichen Welt als aktiver und verantwortungsvoller Bürger zu leben.

Die herkömmliche Strategie deutscher Schulen besteht häufig darin, Probleme in überschaubare Teile zu zerlegen und den Schüler*innen dann beizubringen, diese Puzzleteile zu bearbeiten oder auswendig zu lernen. In modernen Gesellschaften erfolgt Wertschöpfung, indem verschiedene Wissensgebiete zusammengeführt und Ideen miteinander verknüpft werden, die zuvor in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen schienen. Dies setzt voraus, mit anderen Denkweisen vertraut und aufgeschlossen für sie zu sein.

So, und dann folgen in seinem Artikel beim Forum Bildung Digitalisierung diverse Handlungsempfehlungen für den Schulbetrieb, die sicherlich innerhalb des bestehenden Systems gut umsetzbar wären, sofern wir Schule vorrangig als zentrale gesellschaftliche Sozialisationsinstanz sehen wollen, um zukünftige Wertschöpfungsprozesse zu ermöglichen. Und man weiss dann auch, warum seine Ausführungen gut zum Forum Bildung Digitalisierung passen. 

Wie ihr seht, ich bin weiterhin skeptisch gegenüber diesem Schulterschluss, stimme aber auch vielen seiner Aussagen zu. Als er letzthin hier in Berlin in einem öffentlichen Vortrag seine Thesen vortrug, gingen wir von FROLLEINFLOW einmal hin, um uns ein ungefiltertes Meinungsbild zu verschaffen.

Jetzt zum Eigentlichen …

Unser Besuch des Vortrags von Andreas Schleicher in der Urania Berlin am 29.10.2019.

Meine anschliessenden Notizen

WAS BEMERKENSWERT WAR:

  • 4K-Modell findet keine explizite Erwähnung
  • Kritisches Denken, Kollaboration, Kommunikation & Kreativität sind Teil eines komplexeren Kompetenzrahmens
  • Zentrale persönliche Fähigkeiten auf die es ankommt: Selbstwirksamkeit, Kreativität und Verantwortung!!
  • Selbstregulierung, Resilienz, Empathie, Offenheit, Neugierde extrem wichtig
  • aber: Empathie erlernt man in den allerersten Lebensjahren => fällt den Menschen später sehr schwer, das zu erlernen
  • wichtig der Satz von AS, dass man entlang der internationalen Ergebnisse sehen kann: es muß nichts so bleiben wie bislang, weil andere es anders schaffen, z.B. soziale Selektion auflösen
  • mehr Geld braucht es nicht, man kann sich entlang ärmerer Länder orientieren (z.B. größere Klassen, mehr Freiraum für L&L, mehr Anbindung an Wissenschaft)
  • mehr Coding braucht es auch nicht, da diese Tätigkeiten bald schon überholt sind => Computational Thinking ist viel wichtiger
  • Wissenschaftskenntnis strukturiert das Hirn
  • Fachwissen braucht es immer weniger
  • Wir bilden Menschen für einen Job aus, das ist ein instrumenteller Ansatz; Wissen in unserer Zeit in Frage zu stellen ist wichtig, nicht Wissen weitergeben.
  • Lernen zu Unlernen wird immer wichtiger
  • frühzeitige Unterteilung der S&S in verschiedene Schultypen bringt allerorten Unzufriedenheit, weil sie sich nicht unterstützt fühlen
  • es gibt keinen Zusammenhang zwischen Leistungsniveaus von Schulen und Immigranten-Anteil
  • größere Vermischung an Leistungsniveaus hilft allen
  • die besten und mehr L&L in die Klassen mit den schwächsten S&S => Anreizsysteme schaffen!
  • mehr soziale Lehr- und Lernformen
  • Soziale Kompetenz steht in jedem Schulplan; trotzdem stehen die angewendeten Methoden dem entgegen:
    • Jeder sitzt weiterhin an seinem eigenen Einzeltisch!
    • Es gibt weiterhin Tests, um zu sehen, wo eineR besser abschneidet als der andere.
  • Andere Bereiche sind viel weiter als die Bildung, z.B. die Medizin => Arbeiten in Teams
  • D ist sehr industrielastig weiterhin, auch sehr top-down mit wenigen Gestaltungsmöglichkeiten für L&L (z.B. D lässt nur 10% Gestaltungspotenzial für die Schulen, NL aber 90%)
  • China hat schon längst von Drill & Practice umgestellt auf soziale Lernmethoden, ähnlich wie Japan
  • China verbietet nahezu den nachmittäglichen Nachhilfe-Unterricht. Es bringt auch nachweislich sehr wenig.
  • China hat eine digitale Plattform für die L&L zum Austausch; wenn etwas fehlt und jemand eine Idee ausprobieren will, kann er das chin. Bildungsministerium anschreiben und erhält sofort (!) alle notwendigen Ressourcen, um es erst selbst auszuprobieren und dann ggf. zu skalieren
  • 10% der sozial schwächsten S&S aus Shanghai sind leistungsfähiger als 10% der reichsten S&S in Nordamerika
  • Asien etc. investieren in die Zukunft ihrer Kinder; D investiert in die Alten und den eigenen Konsum
  • L&L in Asien, Finnland etc. suchen die Herausforderungen, weil sie damit Reputation erlangen
  • in guten Lern-Ländern sind alle Schulen auf einem guten Niveau; sie schaffen das, dass jedeR S&S optimale Voraussetzungen für sich vorfindet
  • Schule bietet nur eine “einzige” Chance für soziale Benachteiligte; wenn sie da hängen bleiben, ist es vorbei, ihre Talente systematisch weiterzubilden
  • Plädoyer für graswurzelmäßige Veränderungen an der Basis; nicht auf das träge Bildungssystem warten
  • er weiß, dass das alte bildungspolitische System “as we know it” diese exponentiellen Entwicklungen nicht steuern oder gar vorausdenken kann
  • WORLD CLASS Buch liegt kostenfrei auf OECD-Server, kostet beim Verlag aber 34,90€, egal ob Print oder als E-Book

EINDRÜCKLICHES BEISPIEL:

Unterschiedliche Ansätze/Konzepte in verschiedenen Ländern

  • große Klassen, statt kleine Klassen, die viel Zeit nehmen => Lehrer*innen können bei grossen Klassen Zeit sparen, die sie dann nutzen können, um sich um Kinder einzeln zu kümmern, um zu forschen, usw.
  • In China wird beispielsweise in Mathe eine Aufgabe gestellt und die Schüler*innen sollen dafür verschiedene Lösungsansätze in Gruppen herausarbeiten
  • In Deutschland werden in Mathe aber 10 Aufgaben gestellt immer zu dem gleichen Problem, um einen Lösungsweg zu üben
  • Trigonometrie* => braucht heute keiner mehr; Lehrer*innen wissen nicht, warum sie das unterrichten sollen / es im Lehrplan steht; Unternehmen gefragt, ob die das brauchen => die fragen zurück , was das ist – war vor vielen hundert Jahren mal erforderlich, aber heute nicht mehr benötigt => es wird nichts grundlegend hinterfragt!
  • Für Pädagogen wird Offenheit immer bedeutsamer;
    nicht Antworten unterrichten, sondern Fragen stellen lernen

*korrigiert nach LinkedIn-Hinweis #thx

KRITISCH:

  • Fokussierung auf Schule “as we know it”
  • keine systemische Sicht (weder Lernregionen, informelles Lernen, Weiterbildung etc.)
  • internationale vergleichende Empirie (mit allen Vor- wie Nachteilen)
  • Fokus auf das Andocken an Unternehmen (eben OECD)
  • OECD treibt mit PISA-Studien (nicht demokratisch legitimiert) die Schulen in eine Richtung, wie sie es erhoben haben
  • wenig bildungspolitische Empfehlung, was man jetzt tun könnte, um bereits im Arbeitsmarkt sich abkämpfende Menschen zu unterstützen
  • AS versteht viel von den Problematiken, kann aber nicht aus dem formellen Gerüst raus. Er denkt selbst nicht transformativ, sondern hält sich an seinen Zahlen fest.
  • Filter-Bubbles auf Internet sind m.E. widerlegt

Fazit

Das Thema “Schule im digitalen Zeitalter” darf man nicht zu klein denken.

Bildungspolitisch geht es nur sekundär darum, digitale Werkzeuge, Tools oder Umgebungen an den Schulen zu platzieren. Da hat die Bildungsindustrie, auch vertreten durch die Stiftungen, naturgemäß ein anderes Verständnis. Siehe oben.

Wenn wir wirklich die vorhandenen Talente der Gesellschaft heben wollen, damit wir unsere zentralen Herausforderungen gemeinsam (!) lösen können, dann müssen wir von der individualistischen Perspektive weg, die bis heute gerade in Deutschland durch das Humboldt’sche Ideal vorherrscht. Und sich im machtpolitischen Top-Down-Betrieb niederschlägt.

Es gilt vielmehr, eine sinnvolle Transformation der Gesellschaft auf eine nachhaltige Stufe bottom-up zu ermöglichen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Selbstverständlich nutzen wir dazu all die digitalen Potenziale, die sich uns bieten. Aber zentral muss die Problem- bzw. Lösungsorientierung sein, die wir anstreben sollten: Gemeinsam, kollaborativ, im wechselseitigen Diskurs. Wir können dabei auf niemanden verzichten und brauchen jedes einzelne Talent. Darauf muss die Bildungspolitik der Zukunft ausgerichtet sein. Alles andere ist Folklore!

Hier sein aktuelles Buch


Artikel ursprünglich erschienen in unserem Newsletter The NeWoS vom 16. November 2019.

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