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Kann man Kreativität wirklich “lernen”?

Kreativität ist eine der Schlüsseleigenschaften moderner Menschen, elementar bedeutsam für Problemlösungen und Innovationen. Aber wie entwickelt man Kreativität aus? Ist es damit getan, 10.000 Arbeitsstunden in eine bewusste Übung zu investieren, wie es professionelle Musiker*innen, Maler*innen, Sportler*innen und sonstige Künstler*innen bekanntlich handhaben?

Mit bewusster Übung ist gemeint, …

(…) sich selbst Ziele zu setzen, komplexe Aufgaben in kleine Stücke zu zerlegen, hochkomplexe und ausgefeilte Darstellungen möglicher Szenarien zu entwickeln, aus der eigenen Komfortzone herauszukommen und ständig Feedback zu erhalten.

Aber hilft dieses systematische Training wirklich kreativen Menschen, die tagtäglich neue, originelle Produkte entwickeln wollen (und müssen). Ist nicht genau die Wiederholung vorgängiger kreativer Artefakte das genaue Gegenteil von Kreativität?

Kreativität bedeutet, dass die Schöpfer*innen originell, sinnvoll und überraschend agieren und dass das Ergebnis über das Standardrepertoire hinausgeht.

Schließlich müssen kreative Produkte insofern überraschend sein, als das originelle und sinnvolle kreative Produkt nicht nur für einen selbst, sondern für alle überraschend sein muss.

Aber wie “lernt” man das?

In den Studien der letzten Jahrzehnte haben sich bestimmte Forschungsergebnisse herausgeschält, was Kreativität ausmacht:

  • Kreativität ist oft blind. => Der Zeitgeist spielt eine große Rolle, ob ein kreatives Werk angenommen wird und in die Zeit passt.
  • Kreative Menschen haben oft chaotische Prozesse. => Kreativität ist kein linearer, kausaler Prozess. Der Zufall ist sehr bedeutsam.
  • Kreative erhalten selten hilfreiches Feedback. => Jede*r hat zu allem eine Meinung – und alle jeweils eine andere 😉
  • Die “10-Jahres-Regel” ist keine Regel. => Kreative Prozesse sind zeitlich nicht steuerbar.
  • Talent ist relevant für kreative Leistungen. => Wenn Talent die Geschwindigkeit bedeutet, wann jemand sich die Expertise (endlich) drauf geschafft hat, dann kommt es auf originäres Talent bei kreativen Prozessen an sich nicht an. Oder wie Joseph Beuys sagte: “Jeder Mensch ist ein Künstler.” 
  • Die Persönlichkeit ist relevant. => “Die Forschung hat gezeigt, dass kreative Menschen eher zu Nonkonformität, Unkonventionalität, Unabhängigkeit, Offenheit für Erfahrungen, Ich-Stärke, Risikobereitschaft und sogar zu leichten Formen von Psychopathologie neigen.” Na, dann 🙂
  • Gene sind relevant. => “Das bedeutet nicht, dass die Gene unser Verhalten bestimmen. Es bedeutet nur, dass Gene relevante Einflüsse auf unser Verhalten sind, einschließlich unseres kreativen Verhaltens.”
  • Auch Umwelterfahrungen spielen eine Rolle. => Die familiären Herkünfte, Rollenmodelle, soziokulturelle, politische und ökonomische Bedingungen sind wichtige Faktoren, die die Kreativität des Einzelnen beeinflussen.
  • Kreative Menschen haben breite Interessen. => “Wie der Psychologe Howard Gruber gezeigt hat, verfolgten die kreativsten Wissenschaftler im Laufe der Geschichte eher “Unternehmensnetzwerke”, in denen sie eine große Anzahl von lose miteinander verbundenen Projekten verfolgten, als dass sie verbissen eine einzige Forschungsfrage verfolgten.”
  • Zu viel Fachwissen kann der kreativen Größe abträglich sein. => Etwas Wissen ist von Vorteil, aber zu viel Wissen führt zur Inflexibilität. (Ein Hoch auf die Oberflächlichkeit, yeah! 🙂
  • Außenseiter*innen haben oft einen kreativen Vorteil. => “Viele ausgegrenzte Menschen im Laufe der Geschichte – auch Einwanderer*innen – kamen nicht trotz ihrer Erfahrungen als Außenseiter*innen, sondern wegen ihrer Erfahrungen als Außenseiter*innen auf höchst kreative Ideen.” (Deshalb werden sie auch oft erfolgreiche Unternehmer*innen.)
  • Manchmal müssen Kreative einen neuen Weg schaffen, damit andere bewusst üben können. => Kreative Menschen sind nicht nur gute Problemlöser*innen. Vielmehr sind sie auch besonders gut darin, überhaupt Probleme als solche zu erkennen.

Mit diesem schwer in der (Hoch-)Schule erlernbaren Rüstzeug entlässt der Autor die Leser*innen, nicht ohne darauf zu verweisen, dass wir dringend mehr von ihnen benötigen:

Kreative sind nicht unbedingt die effizientesten, aber ihr chaotischer Verstand und ihre chaotischen Prozesse erlauben es ihnen oft, Dinge zu sehen, die andere nie gesehen haben, und neue Wege zu schaffen, die zukünftige Generationen bewusst gehen werden.

Das bedeutet: Ein Curriculum wird diese Fähigkeit nicht “vermitteln”. Wir benötigen dafür offene, systemische Gelingensbedingungen. Wir müssen loslassen.


Artikel am 12. März 2021 erschienen auf Piqd als Hinweis auf den Scientific American-Artikel Creativity Is Much More Than 10,000 Hours of Deliberate Practice

2 Antworten auf „Kann man Kreativität wirklich “lernen”?“

Liebe Anja,
wie immer ist dein Blogbeitrag “food for thought”. Durch deine Ausführung wird deutlich, wie sehr Kreativität und kritisches Denken zusammengehören. Bei beiden müssen wir über die Routineabläufe im Kopf hinauswachsen. Wusstest du schon, dass es dazu gut erforschte didaktische Ansätze in Deutschland gibt? Die Katholische Erwachsenenbildung Deutschland forscht schon seit vielen Jahren an der Frage wie ein metakognitiv fundierter Bildungsansatz Selbstlernstrategien, Kreativität und kritisches Denken unterstützen kann. Dazu gibt es inzwischen auch eine Veröffentlichung.
https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/paedagogik-soziale-arbeit/soziale-arbeit/27355/metakognition-die-neue-didaktik#
Ich arbeite mit diesem Ansatz und kann ihn nur empfehlen!
Liebe Grüße
Gisela

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