Jo Boaler gilt als eine der innovativsten Mathematik-Forscher*innen unserer Zeit. Sie ist seit langem Professorin an der Stanford University und hat ein Unternehmen namens youcubed gegründet, über deren Lernplattform interessierte Studierende und Lehrende lernen können, wie man Mathe erfolgreich lehrt und lernt.
Denn: Alle Menschen können Mathe lernen! Es ist ein Mythos, dass es mathematisch Begabte gäbe – und andere. “Ich bin kein Mathe-Typus” entspricht nicht dem menschlichen Wesen. Es ist vielmehr systemisch produziert bzw. durch falsche Erziehung provoziert. Dies alles hat Jo Boaler (neben anderen) über die Jahre herausgearbeitet und auch Ansätze entwickelt, wie man Mathematik für alle zugänglich machen kann, egal welche unterschiedlichen Lernpfade sie präferieren.
Und machen wir uns nichts vor: Die mathematische Kompetenz in der Gesellschaft muss insgesamt steigen, wollen wir den Herausforderungen unserer Zeit datenbasiert und klug etwas entgegensetzen. Wir benötigen dafür Mathematik in breiten Teilen der Gesellschaft – und: Man kann es auch im fortgeschrittenen Alter wieder auffrischen!
Was es dazu braucht, ist ein sogenanntes “Growth Mindset”, wie es auch Carol Dweck proklamiert (PDF). Im Gegensatz zum “Fixed Mindset”, das auf auswendig gelernten Glaubenssätzen beruht, bringen Menschen mit einem “Growth Mindset” eine kreative, flexible Haltung mit, die sich auf Herausforderungen freuen, um Neues zu lernen, damit sie diese meistern können. Lernen sie dann noch, gemeinsam mit anderen zu lernen statt alleine, steht ihnen im Grunde nichts mehr im Wege.
Wie positiv man also auf neue Dinge schaut, macht dieses Mindset aus. Aber auch dieses muss man lernen. Man muss die Erziehung als System verändern, um die Mindsets von möglichst vielen Heranwachsenden zu ändern. Menschen müssen an sich glauben können, sich weiterentwickeln zu können. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen. Andernfalls fördert man die eh schon vorhandenen Ungleichheiten.
Aber auch Personen aus Familien, die immer wieder eingebläut bekommen, wie smart sie seien, scheitern oft daran, ihr daraus entstandenes Fixed Mindset zu überwinden, da sie kaum zugestehen mögen, etwas nicht zu wissen oder zu können. Das wiederum ist ein Eliten-Problem, mit dem wir tagtäglich auf den verschiedenen Hierarchiestufen zu kämpfen haben und die so viele Transformationsbemühungen verhindern.
Damit hatte auch Jo Boaler selbst ordentlich zu kämpfen. Zwei renommierte Mathe-Gurus starteten seinerzeit eine öffentliche Mobbing-Geschichte, um ihr akademisches Fortkommen und ihre Bestrebungen hin zu einer Emanzipation des Mathe-Lernens zu unterbinden. Bis heute bekämpfen deren Fanboys die innovative Professorin. Und von Fanboys kann hier schon die Rede sein, sind es doch alles “alte, weiße Männer”, die sich offenbar in ihrer eigenen Identität bedroht fühlen, dass sie gar nicht so außergewöhnlich talentiert sind, wie sie es sich wechselseitig gerne zugestehen. (Mit diesem Blogpost machte Jo Boaler selbst 2012 auf die Diffamierungskampagne aufmerksam, um sich aus der Reputationsschlinge zu ziehen.)
Über all das und noch einiges mehr (z.B. die Initiative für ein neues Mathe-Curriculum in Kalifornien, das u.a. Data Science statt Integralrechnung empfiehlt), erfährt man in diesem Podcast von Guy Kawasaki, der das Gespräch ausgesprochen unterhaltsam wie empathisch führt. Absolute Hörempfehlung!
Ach so: Wenn ihr eure Kinder unterstützen wollt, ein Growth Mindset aufzubauen, dann lobt sie weniger für ihre “Smartness” oder ihr (vermeintliches) Talent, sondern lobt vielmehr ihr Tun und ihre Weiterentwicklung. Man kann Fehler machen, man kann auch scheitern mit einem Projekt – macht nichts, weiter geht’s mit dem Lernen. Kann jedem passieren!
Und wenn ihr bislang dachtet: “Ich bin kein Mathe-Typus!” Dann fügt einfach zukünftig hinzu: “Bis jetzt!”
Artikel am 12. Juni 2021 erschienen auf piqd als Hinweis auf den Guy-Kawasaki-Podcast Jo Boaler: Math Evangelist, Author, and Stanford Professor