Ihr wisst, dieses Thema treibt mich und unser Netzwerk schon geraume Zeit um. Irgendwann wird dazu ein Buch von mir (oder uns) erscheinen. Es will aber noch geschrieben werden – und vorher etwas recherchiert und interviewt usw. usf.
Um mich einzugrooven, hatte ich auf einer der diesjährigen, langen Zugreisen dieses Kapitel erstellt, als mögliche Einleitung für ebenjenes neue Buchprojekt. Was denkt ihr dazu? Habt ihr Ideen und Anregungen, wen wir zu kreativen Ansätzen befragen könnten? Und habt ihr schon bei meiner Umfrage mitgemacht, die ich vor einiger Zeit habe rund gehen lassen (siehe unten)?
Das Buch kommt, ganz sicher. Es ist nur noch eine Frage der Zeit … 📖
Einleitung: AUS DEM MASCHINENRAUM EINES VERUNSICHERTEN BÜRGERTUMS
Mit einigen Ergänzungen von Angelica Laurençon
Das hatten sie sich anders vorgestellt. Sie meinten es doch gut. Damals, als Ronald Reagan, Margaret Thatcher und auch unser Helmut Kohl die konservative Wende ausriefen und niemand etwas dagegen hielt. Die 68er hatten sich ausrevolutioniert, der Sozialismus hatte sich in Kuba, Korea, Kambodscha und in der DDR schon selber abgeschafft. Der Neoliberalismus bot sich als Zukunftsmodell der westlichen Gesellschaft. Es klang ja so überzeugend:
Neues Wachstum generieren, den Unternehmen neue Absatzmärkte verschaffen und alles, aber wirklich alles diesem Ziel unterzuordnen. Mehr, mehr, mehr. Alle Menschen galt es in diesen Prozess zu integrieren, für unser aller “Wohlstand”. Und die Besten, Leistungsfähigsten sollten daran ordentlich verdienen. Als Ansporn, Zielmarke, Möhre.
Die zentrale Idee hinter dieser neoliberalen Ideologie: Geht es den Unternehmen und den Besserverdienenden gut, sickert genügend Kapital nach “unten” ab – und alle profitieren von diesem Prozess. Naja, fast alle.
Die Legende von der höheren Bildungsleiter wurde zur Mantra. Business-Schulen, tausende von Bachelor und Master-Variationen wuchsen und gediehen, denn sie waren das Premium-Ticket des Arbeitsmarkts. Jeder sollte aus seinen Neigungen das Beste machen können. Ein Master der Numismatik oder der Filmwissenschaft, Hauptsache ein Master.
Die Globalisierung nahm ihren weiteren Lauf, eine weitere Drehung auf einer neuen Umlaufbahn. Für viele lief es größtenteils auch ganz gut. Die Menschen kümmerten sich um ihre Karrieren, sie lernten und schufteten, reisten und sahen die Welt. Und überhaupt: Die Kinder der 68er wuchsen in eine zunehmend liberalere Welt hinein, die kulturellen Werte änderten sich nachhaltig – und die weltgesellschaftlichen Strukturen ebenso.
Die Digitalisierung startete langsam durch. Für viele nur eine Randerscheinung, eine Freizeitbeschäftigung. Für andere wurde sie zum zentralen Lebenselixier, die alles andere verändern würde.
Schwellenländer begannen sich weiter herauszukristallisieren, der globale Handel nahm Fahrt auf. Immer mehr Menschen partizipierten am weltweiten Warenhandel. Die weltwirtschaftlichen Kreisläufe boomten und die Zahlen stimmten. Gut, es gab ein paar Krisen und Kriege, immer mehr Menschen befanden sich auf der Flucht. Aber über alle Kategorien hinweg ging es der Menschheit immer besser. Durchschnittlich. Das wissen wir jetzt rückblickend aufgrund des Datenmaterials der “Welt in Zahlen”.
Es gab nur einen größeren Wermutstropfen: Das Klima. Eigentlich war es längst bekannt. Es gab seit den 1970er Jahren erste umweltpolitische Demonstrationen. Der Club of Rome warnte. Aber es scherte kaum jemanden. Man machte weiter, wie gehabt. Die politischen Strukturen waren darauf ausgelegt, bedient zu werden. Von jedem Einzelnen. Alle kämpften. Für sich. Und die eigene Familie. Solidarität mit anderen Gruppen, denen man nicht selbst angehörte? Kostete zu viel Energie. Man kann sich ja nicht um alles kümmern. Hauptsache, die Wirtschaft boomt. Die große und auch die kleine.
Und so drehte sich die Welt Jahr um Jahr weiter. Ohne große mentale Veränderungen. Alle machten einfach immer so weiter. Weder links noch rechts wurde geblickt. Leider auch nicht nach vorne, zumindest hierzulande. Man las zwar hin und wieder, dass andere von einer digitalen Transformation sprachen. Aber wie, bittschön, sollte solch eine Spielerei wie ein Online-Shop, eine Suchmaschine oder soziale Netzwerke unsere Wirtschaft nachhaltig verändern? Lächerlich, so befanden es viele – und machten weiter wie gehabt. “Hoffentlich ist dieser Hype bald wieder vorbei”, so hörten wir es häufig schallen.
Nun, es sollte anders kommen. Aber als sie es bemerkten, waren einige Züge bereits abgefahren. Gut, man konnte diese anderen Digital-Infrastrukturen nutzen, um wenigstens etwas am neuen globalen Rad mitzudrehen. Aber man konnte ja niemanden zwingen. Wegen Datenschutz – und so. Ihr wisst schon. Man war gelähmt im Hier und Jetzt. Jahr um Jahr. Es gab ja keine eigenen, europäischen Plattformen, die usable waren. Also machte man … nix.
Leider lernte man dadurch auch nicht, neu zu denken. Ohne Praxis-Erfahrung dominiert das Geschwafel, keine Expertise. Und damit kein Potenzial, das morgen mitzugestalten. Der Umgang mit der Digitalisierung fokussierte darauf, sich vor den anderen Plattformen und Prozessen zu schützen. Nichts sollte verändert werden. Stört uns nicht. Uns geht es gut. Und solange es uns gut geht, ändern wir nix. Warum auch? Was sollten die Unkenrufe!
Es ging weiter alles seinen gewohnten Gang. Es wurde Papier bedruckt, gefaxt, unfassbar umständlich Bürokratie absolviert, unendlich viel Energie darauf verwendet, diesen langsamen Prozess am Laufen zu halten. Und keiner hatte mehr Kraft, über den Tellerrand zu schauen. Geschweige denn etwas zu bewegen. Man musste ja schaffen, schaffen, Häusle bauen. Und reisen, ja, Urlaub machen. Um sich zu erholen von dem Ganzen.
Nur langsam dämmerte es immer mehr Personen in halbwegs verantwortlichen Positionen, dass da in anderen Teilen der Welt sich etwas tut. Sie nutzten die Digitalisierung, um Prozesse zu optimieren, um dem Klimawandel zu begegnen und die Gesellschaft neu zu strukturieren. Besser. Effizienter. Klüger. Zumindest im Großen und Ganzen.
Klar kamen dadurch auch die Nepper, Schlepper, Bauernfänger zum Zuge, versuchten die digitale Inkompetenz der Menschen und Strukturen für ihre Zwecke zu nutzen. Dagegen musste man sich schützen. Darum kümmerte man sich hier gerne. Nutzte diesen Hebel, um den eigenen Einflussbereich weiter auszudehnen – alles unter dem Vorwand, uns zu schützen. Und wir schützten uns. Beschäftigten uns unentwegt und dauernd um den Schutz unserer wie anderer Räume. Schutz. Schutz. Schutz. Bloss nichts selbst gestalten. Ausser dem eigenen Garten.
Derweil, in anderen Weltregionen, entwickelten sie weiter. Immer raffinierter nutzten sie die Potenziale der Digitalisierung, um Gesellschaft neu zu denken. Sie vernetzten Menschen und Maschinen, organisierten damit das gesellschaftliche Zusammenleben neu, alles veränderte sich, auch die Handelsströme, die Unternehmen, die Arbeit. Einfach alles. Es wurde auch höchste Zeit. Die Klimakrise war kurz vor dem “Point of No Return”.
In Deutschland staunte man weiter. Und schützte sich weiterhin gegen diese immensen Veränderungen. Man ahnte, es könne schlimm enden mit dieser Region. Zu gross war der Abstand, der sich in den letzten Jahren exponentiell aufgebaut hatte. Wie sollen wir das auch noch schaffen?
Offiziell wurde verlautet: Keine Sorge, wir haben das im Griff. Wir wollen den Leuten doch keine Angst machen. Derweil ahnten immer mehr, dass hier niemand etwas im Griff hat. Wir rasen im D-Zug auf eine Wand zu. Für einen Hyperloop fehlte leider die Energie…
Während alle Zeichen auf Stillstand standen, versuchten Einzelne weiterhin ihr Glück. Ihr Leben leben. Mit Perspektive. Statussymbole anhäufen. Auto, Hausbau, Reisen, Familie gründen und so. Welche attraktiven Alternativen sollte es dagegen geben? Darauf haben wir sämtliche Prozesse optimiert. Auch das Bildungssystem. Ein Zertifikat nach dem anderen einsammeln. Zeugnisse und Abschlüsse. Alles sammeln, ausdrucken und abheften. Karriere machen. Möglichst im Konzern. Oder im öffentlichen Dienst.
Gesellschaft aktiv mitgestalten? Ach was. Was kann man als einzelne Person schon groß schaffen?! Lieber dem Bedürfnis nach Sicherheit, Überschaubarkeit und Ruhe folgen, als der Absicht, auf dem langen Marsch durch die Institutionen die Gesellschaft zu verändern. Wir machen einfach weiter wie gehabt. So haben wir das gelernt. Also lasst uns weiter fortbilden.
Woanders konnte man mit diesen Zertifikaten nix mehr anfangen. Dort legten immer weniger einen Wert darauf. Die Fortschrittlichen nicht, die, die das Morgen gestalteten. Sie konnten mit diesen alten Dokumenten nichts mehr anfangen. Schon lange nicht mehr. Es entwickelten sich Parallelwelten – der Transfer zwischen diesen wurde immer schwieriger. Das hatte man hier im Mainstream nicht im Blick. Denn wo kämen wir hin, wenn wir alles Alte in Frage stellten?! Was wir uns mühsam aufgebaut hatten, historisch wohl begründet …
Doch immer mehr Menschen ahnten, so wie es ist, kann es nicht mehr lange bleiben. Eigentlich besser schon heute nicht mehr. Eigentlich. Aber wie dann? Vielleicht können wir wenigstens die Klima-Zertifikate beibehalten? Das klingt doch seriös, oder? ODER?
Derweil machten alle einfach weiter, wie es sich bewährt hatte. Optionen schaffen für die unsichere Welt von morgen. Und die alte geniessen, so lange es geht: Immer mehr junge Menschen machten Abitur, studierten, sammelten Zertifikate, reisten und genossen. Sie wussten es nicht besser. Es hatte sich so herumgesprochen. So macht man das, wenn man persönlich weiter kommen will. Aber kommt man weiterhin so weiter? Und wird die Erde überleben?
Willkommen im Maschinenraum des Bürgertums.
Ganz kurze Umfrage zum Zertifikate-Wahnsinn
Kennt Ihr weitere Unternehmen, die keinen Wert mehr auf Zeugnisse oder Zertifikate legen?
Lasst uns das bitte weiter sammeln (hatte diese Umfrage bereits vor 1,5 Jahren im Umlauf).
Eine Antwort auf „Was kommt nach den Zertifikaten?“
Es ist ja bedauerlicherweise – zumindest im ländlichen Raum – so, dass diese Flut an Zertifikaten dazu dient, eine bestimmte, erforderliche (?, wer entscheidet das) Qualifikation zu bieten, die ich in einem Gespräch, nicht ermitteln kann, weil mir womöglich das sog. Zeug dazu fehlt… Außerdem stelle ich als Leiterin einer zwar kleinen, aber auf Wirtschaft spezialisierten Sprachenschule fest, dass der König von jeher dem Volk durch teure Kleidung und hochwertige geschmückte Dokumente immer noch imponieren kann.
Panem et….