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Für euch gelesen: “Bildung” – ein Strategiekern neoliberaler Rhetorik?

Kopie aus dem ehemaligen FLOWCAMPUS-Blog, der jetzt ruhen muss ..

Vorab …

Zwecks Auswertung unserer Zertifikats-Umfrage (Vielen Dank an alle, die sich bislang beteiligt haben! Sehr hilfreich!!) habe ich begonnen, mich (wieder) ein wenig einzulesen in die Fachliteratur. Meine Fragen lauten:

  • Woher kommt dieser Zertfikats-Wahnsinn?
  • Wer treibt diese Entwicklungen?
  • Liesse sich das nicht auch anders denken?
  • In welcher Welt wollen wir leben?

Ihr merkt schon: Es sind die GANZ grossen Fragen, denen ich gerne nachgehe…

Solltet ihr euch fragen, warum wir das tun?!

Nun, weil wir davon überzeugt sind, dass viel Potenzial bei den Menschen verschenkt wird, sich einzubringen, um gesamtgesellschaftlich ein sinnvolleres Leben aufzubauen und die anstehenden Probleme gemeinsam zu lösen. Gut, für viele funktioniert das bestehende Bildungs- und Arbeitsregime noch ganz gut, aber angesichts der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitswelten wird es bald zu grossen Verwerfungen kommen. Und darauf ist im Grunde niemand vorbereitet. Eben weil alle das Bildungs-Narrativ seit Jahren bedienen – und es letztlich zu immer schnelleren Hamsterrad-Rennen führt.

Von daher hier ein paar Auszüge aus einem Beitrag, der zwar phasenweise etwas polemisch daherzukommen scheint, trotzdem jedoch aufzeigt, wie es zu diesem Zertifikats-Wahnsinn in den letzten Jahren kommen konnte, bei gleichzeitiger Entwertung des Erreichten. Letztlich geschieht dies immer zu Lasten der “bildungsarmen Schichten”, wie es heute so schön heisst. Die wiederum gerne angerufen werden, um weitere (teilweise idiotische) Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu disziplinieren. Eine Lösung für die aufkommenden Probleme bieten die aktuellen Rezepte allesamt nicht. Lest den Artikel ruhig in Gänze. Es lohnt sich!

Knobloch, Clemens: „Bildung“ – ein Strategiekern neoliberaler Rhetorik? In: Jahrbuch für Pädagogik 2013: Krisendiskurse, red. David Salomon und Edgar Weiß. Frankfurt/M.: Lang. 2013, S. 105–124.


Offenbar wächst und gedeiht der rhetorische Charme von Bildungsprogrammatik im Umfeld rapide wachsender sozialer Ungleichheiten. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, nicht zuletzt auch den, dass die medial adressierten breiten Mittelschichten die (immer noch beträchtliche) eigene Prosperität gerne als Bildungsaufstieg kodieren (und nicht als Ergebnis der kurzen Blüte während der goldenen Jahre des fordistischen Kapitalismus). Was ja auch für den Einzelnen viel schmeichelhafter ist, weil der Wohlstand so als Ergebnis eigener Tüchtigkeit erscheint. Diese zusehends „statuspanische“ (Bude 2011) Schicht fürchtet nun, den mühsam errungenen sozialen Vorsprung nicht an die eigenen Kinder weitergeben zu können. Sie ist ergo der Hauptadressat aller Rhetoriken, die Bildung, Status und Wohlstand engführen (und sie ist, beiläufig gesagt, zunehmend bereit, erhebliche Geldsummen in die Statussicherung des Nachwuchses zu investieren, wenn exklusive Bildungsabschlüsse finanziellen und beruflichen Aufstieg versprechen). Das aus den angelsächsischen Ländern schon länger bekannte emblematische Phänomen ist die junge Akademikerfamilie, die schon bei der Geburt ihrer Kinder da nach einer Wohnung sucht, wo exklusive, eben noch bezahlbare Kindergärten und Schulen in der Nachbarschaft winken, und dieses Phänomen macht sich auch hierzulande breit.

Nun wissen natürlich alle, dass sozialer Status, Reichtum und Schul- oder Bildungsintelligenz keineswegs gleichsinnig verteilt sind. Alle wissen aber auch, dass das deutsche Schul- und Bildungssystem so funktioniert, als seien sie gleichsinnig verteilt. Status- und Herkunftsvorteile werden feudalisiert, erblich gemacht, und dabei spielt das marktlich umgekrempelte Bildungssystem eine durchaus neue und veränderte Rolle. Was man gemeinhin als soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems apostrophiert, das ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend verdampft. Darüber herrscht zwischen den Bildungsforschern aller Lager weitgehende Einigkeit. Das Modell Aufstieg durch Bildung ist in den Köpfen, im Horizont von Erfahrung und Erwartung der älteren Generation, sehr stark verankert, aber in der Realität der jungen Generation kommt es so gut wie nicht mehr vor.

Der historische Kern des Bildungsgedankens ist meritokratisch. Reichtum, Status, Herkunft, weltliche Macht, all das ist vererbbar und letztlich kein Verdienst des Einzelnen. Selbst Intelligenz gilt, da man geneigt ist, den Genen sehr viel zuzutrauen, als erblich. Gebildet wird man dagegen nur durch die eigene Leistung und Tätigkeit. Bildung beginnt als meritokoratisches Gegenprogramm zu feudaler Erblichkeit des Status (Bollenbeck 1994). Deswegen ist die (vom deutschen Bildungssystem beförderte) Quasi-Erblichkeit von Abitur und Studienabschluss so leicht skandalisierbar, auch wenn alle Welt bei Bildung eben nicht an die zweckfreie Perfektionierung der Persönlichkeit, sondern an möglichst exklusive Zertifikate denkt, deren Reputation den beruflichen Ein- und Aufstieg garantiert.

Selbstverständlich weiß man heute auch, dass der historische Erfolg der deutschen Bildungsreligion nicht allein in dem beförderten Persönlichkeitsideal, sondern in der Kopplung an gut ausgebildete Beamte, Funktionseliten, Wissenschaftler etc., d.h. eben auch an Karrieren lag. Und wie es heute um die Kopplung von Hochschulabschluss und Berufseinstieg wirklich steht, das lehrt ein Blick in die Südländer der EU. Was im übrigen Anlass gibt, daran zu erinnern, dass die Diskrepanz zwischen guter akademischer Ausbildung und gesellschaftlicher Hochschätzung auf der einen, magerer Entlohnung auf der anderen Seite, in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein ziemlich dynamischer politischer Faktor gewesen ist.

Dennoch ist die fortwirkende meritokratische Suggestion von Bildung der harte Kern aller Bildungsrhetoriken. Der Verweis auf Bildung spielt die Verantwortung für alles, was daraus folgt, den Anstrengungen des Einzelnen zu. Das Prinzip „Jedem nach seinen Fähigkeiten“ scheint in der Bildungswelt, sofern sie als heile Welt auftreten kann, immer gewährleistet, auch wenn man natürlich weiß, dass Bildungsabschlüsse nicht nur durch kognitive, sondern auch durch finanzielle Leistungen „erworben“ werden können. Der historische Charme des Bildungsprogramms liegt darin, dass es sich um ein universelles, prinzipiell an alle gerichtetes Teilhabeangebot – mit implizitem Aufstiegsversprechen – handelt. Wie weit dieses Versprechen jemals eingelöst worden ist, das steht auf einem andren Blatt. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass der rhetorische Charme der Bildung bis heute von diesen Ressourcen zehrt.

Bildungsrhetoriken befördern und unterstellen den Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Können und Leistung des Einzelnen über Erfolg und Status bestimmen – und nicht umgekehrt Erfolg und Status des Einzelnen darüber, welche Bildungsdiplome er sich leisten kann. Wer demnach in Bildungsanstrengungen den Königsweg zur Überwindung sozialer Ungleichheit sieht, der unterstellt, dass wir bereits in einer solchen meritokratischen Leistungsgesellschaft leben. Weiterhin ist das Prinzip Bildung in seiner tiefsten konnotativen Schicht zwar universalistisch, aber in den deutschen Bildungsdebatten ist diesem Universalismus bis heute eine gewisse Portion nationaler Farbe beigemischt. Im (ehemaligen) Land der Dichter und Denker ist man gegen Kränkungen auf dem Felde der Bildung besonders empfindlich, weil man sich hier immer noch besonders viel zutraut.

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Diese gestiegene Bereitschaft zur „präventiven Aufwertung der eigenen Arbeitskraft“ dürfte das einzig sichere Ergebnis der schönen neuen Bildungseuphorie sein. Von der Intensivierung der Konkurrenz um Bildungsabschlüsse profitieren jedenfalls immer auch die privaten Anbieter von mehr oder minder exklusiven Prestigezertifikaten. Für den aufmerksamen Diskursbeobachter lohnt auch ein Seitenblick auf die Mediennarrative, in denen uns die lost generation der südeuropäischen Krise näher gebracht wird. Hier erprobt Deutschland nämlich erstmals ein imperiales Gutmenschenmodell, das wir bisher hauptsächlich aus den USA kennen, wo das einheimische Bildungssystem notorisch nicht ausreicht, um eine hinreichende Anzahl hoher Qualifikationen zu erzeugen. Selbstverständlich ist es ein moralisches Gebot, diesen jungen Leuten zu helfen, ihnen, wie es so schön heißt, eine Chance zu geben. Man schließt also symbolische Abkommen über Ausbildung und Einsatz dieser gut qualifizierten Kräfte in Deutschland und kommt damit nicht nur in den Genuss einer moralischen Dividende, sondern auch in den Genuss von Fachkräften, deren Ausbildungskosten in der Hauptsache anderswo angefallen sind. Die weitere Belebung der Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten für besser qualifizierte, die damit unweigerlich einhergeht, dürfte ebenfalls nicht unwillkommen sein.

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Zusammen genommen ergibt das so etwas wie einen festen Platz der Bildungskonkurrenz auf dem neoliberalen Aktivierungslaufband. Allein die in den Mittelschichten höchst verbreitete Frühförder-Hysterie, die schon Neugeborene und Vorschulkinder mit Chinesischunterricht und naturwissenschaftlichen Experimenten traktiert, dokumentiert hinreichend, wie dicht Angst- und Wunschorte auf diesem Feld beieinander liegen. Die Eltern werden zu ehrgeizigen Projektmanagern des Bildungserfolgs ihrer Kinder, und die Kinder selbst geraten in einem Alter auf das Selbstoptimierungslaufband der Konkurrenzgesellschaft, in dem sie vermutlich mehr lernen würden, wenn man sie im Sandkasten sich selbst überließe. Dabei verdrängen alle erfolgreich, was bei der intensivierten Konkurrenz um Bildungsabschlüsse zwangsläufig herauskommen muss: eine Art Normalverteilung, bei der sich die Zahl der Gewinner und Verlierer günstigenfalls lediglich auf etwas höherem Niveau reproduzieren wird. Wirklich nützlich ist das einerseits für die Arbeitgeberseite, der das Definitionsmonopol über den Wert von Bildungsabschlüssen zuwächst, und für die Strategen der reputativen Spreizung des Bildungssystems, die immer neue Prestigemarken für den gehobenen Sektor ersinnen und vermarkten können. Der Kunde im schönen neuen Bildungssystem wird sich mit dem Kalauer begnügen müssen, dass auch ein Hamsterrad von innen aussieht wie eine Karriereleiter.

Wer in dieser Konstellation auf den Eigen- und Persönlichkeitswert von Bildung verweist, der hat natürlich recht, er wird aber nolens volens zum Snob oder Zyniker, weil die skizzierte Dynamik den Restraum, den das Bildungssystem für Persönlichkeitsbildung bereithält, zügig implodieren lässt. Im Durchlauferhitzer für einen prekarisierten Arbeitsmarkt sind verwertungsfremde Nischen auf Dauer nicht zu halten. Und wer sie anbietet, der wird alsbald zu hören bekommen, er handele unverantwortlich gegenüber seinen Kunden und Abnehmern. Die nämlich glauben, eine nachhaltige Aufwertung ihrer Arbeitskraft erwarten zu können.

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Zur Konsensfiktion wird ein Konzept wie Bildung, wenn sein konnotativ-evaluativer Wert feststeht und nur noch über seine Definition gestritten werden darf. Das ist bei Bildung inzwischen der Fall. Der Vorteil, den eine solche Konstellation für die massenmediale Kommunikation bietet, liegt auf der Hand: Ohne Mühe lassen sich Programmtexte kompilieren, die für jeden etwas Identifikationsfähiges enthalten, die Angst- und Wunschkomponenten so arrangieren, dass am Ende alle beifällig nicken können.

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Die Ausrichtung des Bildungssystems auf globalen Wettbewerb, Beschäftigung, Wirtschaftsanforderungen ist, so ließe sich argumentieren, keinesfalls neu. Neu ist hingegen das imperiale Selbst- und Sendungsbewusstsein, mit dem der unumschränkte Machtanspruch der Wirtschaft auch im Bildungswesen vorgetragen wird. Dass auch auf Scheinmärkten reales Geld verdient wird, steht fest, und dass jetzt die Akkreditierungsagenturen (kostenpflichtige) Kurse anbieten, in denen sie Hochschullehrern und .-verwaltungen beibringen, wie man seine Studiengänge am besten akkreditiert bekommt, ist ein Vorgang, bei dem man nicht recht weiß, ob man „Korruption!“ rufen oder einfach nur lachen soll (vgl. Jürgen Kaube, „Tipps und Tricks für Akkrediteure“ in der FAZ vom 12. Juni 2013)..

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Die „betriebsförmige Konformität“, welche durch gezielte Dauerbeobachtung erzeugt und aufrecht erhalten wird, sorgt zuverlässig dafür, dass die Risiken, die mit jedem „Etwas-anders-machen“ verbunden sind, unüberschaubar werden.

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Institutionen tun ja nicht nur das, was sie tun sollen, sie erzeugen und nähren zugleich das Ethos, das in sie eingebaut worden ist. Man darf getrost bezweifeln, dass der auf möglichst preiswerten und effizienten Erwerb der nötigen Kreditpunkte gepolte Absolvent der schönen neuen Universität über das „Innovationspotential“ verfügt, das die Industrie angeblich händeringend sucht. Zudem teilt das Bildungssystem diesem Absolventen unmissverständlich mit, dass es auf das Prestige der erworbenen Zertifikate ankommt, nicht so sehr auf seine Leistungen in einer „eigensinnigen“ Disziplin. Allen Ernstes versuchen die deutschen Universitäten, Marken zu werden, und niemand sollte sich darüber wundern, dass ihr output dann auch so wahrgenommen und beurteilt wird wie Markenware.

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Wie in anderen Warenwelten wird auch im Bildungsmarkt Diversität und Variation durch marginale Image- und Markendifferenzen ersetzt. Überall ist das gleiche drin, es klebt aber jeweils ein anderes Logo drauf. Wie auch in der Warenwelt wird man auch bei Bildungszertifikaten keinesfalls sicher davon ausgehen können, dass der Aldiabschluss wirklich schlechter ist als der exklusive Gucciabschluss. Fest steht bloß, dass der letztere mehr hermacht (und im Zweifel mehr gekostet hat). Kein Wunder auch, dass die traditionellen Bildungsschichten sich durch diese „Aufwertung“ ihrer Angelegenheiten eher entwertet, marginalisiert und veralbert fühlen. Auch die akademische Pädagogik hat längst erkannt, dass, bei aller blühenden Bildungsrhetorik, in der schönen neuen Bildungswelt für sie durchaus kein Ehrenplatz vorgesehen ist (vgl. die Beiträge in Frost & Rieger-Ladich 2012). Überdeutlich wird hier aber auch, dass zum Bildungsspiel eine stillschweigende Prämisse gehört, die immer mitgedacht, aber nie öffentlich formuliert wird: Dass es unter dem Deckmantel der Bildung um den Tauschwert der Zertifikate auf dem Arbeitsmarkt geht.

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Die Vorstellung eines allgemeinen, öffentlichen und kostenfreien Schul- und Bildungswesens, das tendenziell die Startunterschiede der Schichten und Klassen ausgleichen kann, ist im neoliberalen Staat zwar rhetorisch noch präsent, faktisch aber längst aufgegeben. Die Aufgabe, sich nach Kräften und Möglichkeiten für den Arbeitsmarkt fit zu machen, wird gewissermaßen reprivatisiert.

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So mausert sich die Bildung insgesamt zu einem für alle Beteiligten höchst praktischen Kollusionskonzept. Man einigt sich stillschweigend darauf, dass Bildung die Lösung aller Probleme befördert. Wie gesagt: Armut und soziale Ungleichheit heißen jetzt: bildungsferne Schichten. Im Feld der Bildung kann jeder sein ganz persönliches Gruppen- und Schichteninteresse so artikulieren, dass es meritokratisch und gerecht wirkt und als Gesamtinteresse zugleich moralisch einwandfrei einher kommt.

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Die von Bildung transportierten Konnotationen fasst Bude (2011: 55) so zusammen: Bildung klingt tiefgreifender als Ausbildung, nachhaltiger als Erziehung und vielgestaltiger als Lernen. In der Tat: Bildung klingt öffentlich immer noch ziemlich gut. Vor allem, wenn man in der Position ist, zu definieren, was als Bildung gelten soll. Das auf den ersten Blick höchst widersprüchliche Nebeneinander von rhetorischer Mystifizierung und faktischer Entwertung von Bildungswissen unterstreicht bloß das Definitionsmonopol der Märkte bei der Auswahl geeigneter Kräfte in den verschiedenen Sektionen des Arbeitsmarktes.

Das ist doch jetzt ein Anfang, um weiter über den Zertifikats-Wahnsinn nachzudenken, oder? Coming soon …